Wunderbaum und Superfood Moringa

Ein Artikel von Kristina Kugler | 05.09.2025 - 08:55
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Besonders imposant schaut er ja nicht aus, der „Wunderbaum“, mit seinem etwas korpulent wirkenden Stamm und seinen feinen Fiederblättchen. Die Blüten sind zwar hübsch und duften auch fein nach Maiglöckchen, aber kein Mensch würde Moringa oleifera seiner Schönheit wegen in den Garten pflanzen. Doch bei dieser Pflanze zählen die inneren Werte, und die sind tatsächlich beachtlich.

Vitamin-Bombe Moringa
Frische Moringa-oleifera-Blätter enthalten 7-mal so viel Vitamin C wie Orangen, 4-mal so viel Vitamin A wie Karotten und 4-mal so viel Kalzium wie Milch, 46 Antioxidantien (diese schützen die Zellwände und sollen Krebs vorbeugen) und 18  Aminosäuren. Davon sind 9 Aminosäuren für unseren Körper essenziell, da wir diese Lebensbausteine nicht selbst produzieren können. Werden die Blätter getrocknet, steigt ihr Gehalt an Vitaminen (außer ­Vitamin C) und Mineralstoffen noch um ein Vielfaches an (siehe auch Tabelle auf Seite 48). Nicht zuletzt wegen seines enormen Gehalts an pflanzlichem Eiweiß darf sich der „Wunderbaum“ zu Recht als die nährstoffreichste Pflanze unserer Erde rühmen.

Das allein würde eigentlich schon reichen, ­Moringa oleifera in den „Pflanzenhimmel“ zu loben, doch was sie für viele Menschen in den heißen und trockenen Gebieten unserer Erde zusätzlich so wertvoll macht, sind ihre geringen Ansprüche an Feuchtigkeit und Bodenbeschaffenheit.

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Moringa mag es warm
Der unscheinbare Meerrettichbaum – wie Moringa oleifera auch genannt wird – stammt ursprünglich aus Nordindien, von den südlichen Ausläufern des Himalaya. Mittlerweile wächst der Baum in den Tropen und Subtropen rund um den Globus, von Afrika über Asien bis nach Mittel- und Südamerika in Plantagen, Hausgärten und Feldrainen. Er ist besonders trockenheitstolerant und hält fast schon Wüstenklima aus. Auch Hitze stört ihn nicht, selbst 48 °C sind für ihn eine Zeit lang tolerierbar, ideal sind aber 25 bis 35 °C. Minusgrade setzen dem Baum schnell ein Ende, doch leichte, kurze Fröste vermag er sogar zu überleben. Die oberirdischen Organe sterben zwar ab, aber neue Triebe treiben wieder aus der Wurzel aus. Nicht nur, dass ihn Trockenheit und Hitze ziemlich kalt lassen, auch an den Boden stellt er wenig Ansprüche.

Ein sandiger oder lehmiger Boden sollte es sein, ob er nun leicht sauer oder alkalisch ist, dem Meerrettichbaum ist es gleich. Sogar auf leicht salzigen Standorten gedeiht Moringa olifeira, auf Böden, wo andere Nutzpflanzen entweder gar nicht oder nur kümmerlich dahinvegetieren. Einzig Staunässe verträgt der „Wunderbaum“ nicht. Darf Moringa oleifera unbehelligt wachsen, kann die Pflanze bis zu 15 m hoch werden. Und sie wächst schnell, schneller als Papaya, die 1 m pro Jahr in die Höhe schießen kann. Es wird von 3 Monate alten Moringa-Pflanzen berichtet, die bereits so groß wie Rohrkolben waren oder von solchen, die nach nur 9 Monaten die Höhe eines stattlichen alten Apfelbaumes erreicht hatten. Selbst die Vermehrung von Moringa oleifera ist einfach. Die Keimrate liegt bei über 90 %, wenn der Same im Halbschatten gesät wird, sinkt aber rapide ab, sollte es zu sonnig sein. Auch eine Stecklingsvermehrung ist möglich, hat jedoch den Nachteil, dass die Wurzeln nicht so lang werden. In trockenen Gegenden, wo sich die Wurzeln tief in die Erde strecken müssen, um an Wasser zu gelangen, ist das Pflanzen von Samen sicher die bessere Alternative.

In der Familie der Moringaceae gibt es noch 12 weitere Moringa-Arten, wobei Moringa oleifera die bekannteste und auch am besten erforschte ist. Wenn im Folgenden von ­„Moringa“ die Rede ist, geht es immer um Moringa oleifera.

Moringa in der Küche
Fast alle Teile des Meerrettichbaumes sind essbar. Die bereits erwähnten Fiederblätter landen wie Spinat zubereitet auf den Tellern oder werden getrocknet und zu feinem Pulver verrieben diversen Speisen und Getränken zugegeben. Moringa-Blätter haben einen ganz speziellen Geschmack, für manche Menschen ist er etwas gewöhnungsbedürftig und kann Übelkeit oder Brechreiz auslösen. Ein Tee aus den frischen oder getrockneten Blättern erinnert geschmacklich an Brennnesseltee. Die Blätter sind frisch auf vielen Märkten in Asien, Afrika und in Mittel- und Südamerika erhältlich. In den tropisch-feuchten Gebieten Hawaiis oder auf den Philippinen können die Menschen bis zu 2-mal pro Woche das ganze Jahr über Blätter von dem schnell wachsenden Baum ernten. Die jungen Früchte (Kapseln) – in Indien auch „Drumsticks“ (Trommelstöcke) genannt – werden wie Fisolen gekocht und schmecken nach Spargel. Die duftenden Blüten sind eine Bereicherung für jeden Salat oder, mit heißem Wasser überbrüht, ein gesunder Tee. Die Wurzeln junger Pflanzen dienen mit ihrem stechend scharfen Geschmack – ähnlich einer Krenwurzel – zum Würzen von Speisen. Allerdings muss die Rinde der Wurzel vor dem Verzehr entfernt werden, denn sie enthält 2 toxische Alkaloide (Spirochin und Moringinin). Auch ohne Rinde sollte die Moringa-Wurzel nicht täglich oder in zu großer Menge verzehrt werden, da sie ein Nervengift enthält. Traditionell verwenden Frauen besonders in Indien Moringa-Wurzelrinde, um eine Schwangerschaft in einem frühen Stadium zu beenden. Manche bezahlten mit ihrem Leben dafür. Auch Moringa-Blüten und -Rinde können zu Gebärmutterkontraktionen und dadurch zu einem Abort führen. 

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Zu guter Letzt sind auch die Samen verwertbar. Wie Erbsen werden die noch grünen Samen gekocht oder gebraten. Sind sie reif, enthalten sie bis zu 40 % Öl, dem aber die essenzielle Linolsäure fehlt. Dieses Öl verwenden die Menschen zum Kochen, als Lampenöl, als Schmiermittel, für die Herstellung von Parfüms und Seifen. Selbst die Gewinnung des Öls ist denkbar einfach: Samen rösten, zerstampfen und für 5 Minuten in Wasser kochen. Das Wasser abseihen und über Nacht stehen lassen. Am nächsten Tag schwimmt das Öl an der Oberfläche, bereit zum Abschöpfen. Natürlich wird das Öl üblicherweise durch Pressen gewonnen. Die Rückstände, der Presskuchen, sind ein hervorragender Dünger oder dienen als Wasseraufbereiter.

Moringa für sauberes Wasser
Um Wasser zu klären bzw. Trübstoffe zu entfernen, kommen hauptsächlich Aluminiumsalze zum Einsatz. Diese sind aufwändig in der Herstellung, teuer und in hoher Konzentration giftig. Gerade in Entwicklungs- und vielen Schwellenländern haben zahlreiche Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. In Ländern, wo die kostspieligen Aluminiumsalze fast schon ein Luxusgut sind. In Ländern, wo Moringa wächst. Denn – so unglaublich es auch klingen mag – Moringa-Samen können trübes, verschmutztes Wasser klären, ohne viel Aufwand, von jedem durchführbar. Die trockenen Samen müssen von den Flügeln befreit, geschält und fein vermahlen werden. Das Pulver eines einzigen Samens reicht, um 1 l besonders trübes Wasser zu klären. Wenn das Wasser nur mäßig verschmutzt ist, schafft der Samen die doppelte Menge an Flüssigkeit. Einzige Voraussetzung: Das zu säubernde Wasser muss 1 bis 2 Stunden ständig umgerührt werden. Nach dieser Zeitspanne soll es für mindestens eine weitere Stunde ruhen, damit die durch die ­Moringa-Samen ausgeflockten Trübstoffe zu Boden sinken können. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: klares, sauberes Wasser, von 90  bis 99 % aller Verunreinigungen geklärt. Um noch sämtliche Krankheitserreger abzutöten, empfiehlt es sich, das gesäuberte Wasser abzukochen oder mit Chlor oder UV-Strahlung zu desinfizieren.

Moringa gegen Unterernährung
Es ist ein Segen, dass Moringa oft dort wächst oder gedeihen kann, wo die Menschen mit Unterernährung, hoher Säuglings- und Kindersterblichkeit und unzureichender Trinkwasser- sowie medizinischer Versorgung zu kämpfen haben. In wissenschaftlichen Projekten und Gesundheitsprogrammen (durchgeführt z. B. in Westafrika) konnten die Mitarbeiter nachweisen: Mit Moringa sind sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder weitaus besser ernährt, gesünder, kräftiger. Durch Aufklärungsarbeit von Ärzten, Krankenschwestern und Hebammen, in Informationsbroschüren, Seminaren und sogar Radiospots wird für den täglichen Konsum von Moringa geworben. Gerade schwangere und stillende Frauen sollen vermehrt die Blätter des Meerrettichbaumes zu sich nehmen. Die Menschen lernen, wie sie Mahlzeiten mit ­Moringa zubereiten, wie sie selbst die Pflanze anbauen und ernten, wie sie die Blätter am besten trocknen und zu Pulver mahlen können. In manchen Regionen ist Moringa zwar seit jeher ein Bestandteil der täglichen Nahrung, doch die Menschen haben die Blätter so gekocht, dass von den wertvollen Inhaltsstoffen so gut wie nichts mehr übrig blieb. Auch in diesem Fall hilft Aufklärungsarbeit. In ­Haiti ist es sogar die Regierung, die für den Anbau und Verzehr von Moringa wirbt.

Medizinschrank Moringa
Traditionell kommt der Meerrettichbaum bei diversen Beschwerden zum Einsatz: Die Blätter helfen bei Kopfschmerzen, wenn sie an den Schläfen gerieben werden, als Tee gegen Gastritis und Durchfall und als Breiumschlag bei kleinen Verletzungen, um die Blutung zu stoppen. Sie wirken antibakteriell, antifungal und entzündungshemmend bei Wunden, Insektenstichen und Hautproblemen. Bei Fieber, Bronchitis, Augen- und Ohreninfekten verschaffen sie Linderung. Durch ihren hohen Gehalt an Eisen helfen sie bei Anämie und können dank des vielen Vitamin A Augenbeschwerden, die auf den Mangel dieses Vitamins zurückzuführen sind, verhindern.

Ein Tee aus Moringa-Blüten hilft bei Erkältungen, der Blüten-Saft bei Harnproblemen. Die Früchte, roh verzehrt, nützen als Entwurmungsmittel und bekämpfen Leber- sowie Milzbeschwerden. Das Öl der Samen oder eine Mixtur aus gerösteten, fein zerriebenen Samen mit Kokosöl versprechen Linderung bei Arthritis, Rheuma, Gicht und Krämpfen, wenn sie auf die entsprechenden Körperstellen aufgetragen werden. Oral eingenommen wirken die Samen bzw. ihr Öl entwässernd. Wurzel und Rinde kommen bei Herz-Kreislauf-Problemen zum Einsatz. Ein Umschlag aus gemahlenen Wurzeln mit Salz lindert Rheuma, Gelenksbeschwerden und Nierenschmerzen. Der Pflanzensaft soll bei Asthma helfen.

Bei so vielen positiven Eigenschaften ist der „Wunderbaum“ natürlich schon längst ins Visier der medizinischen Forschung gerückt. Zahlreiche Studien belegen seine antibakterielle und antifungale Wirkung, seinen positiven Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System, auf Blutzucker- und Blutfettwerte, Blutdruck, auf Leber und das Verdauungssystem. Große Hoffnung setzen die Forscher auf Moringa im Kampf gegen Krebs. Nicht zuletzt der hohe Gehalt an Antioxidantien nährt diesen Optimismus.

Bei all dem Rummel um Moringa muss uns aber auch klar sein, dass diese wissenschaft­lichen Forschungsergebnisse, gewonnen im Labor durch Versuche an Ratten oder anderen Labortieren, nicht eins zu eins auf uns Menschen übertragbar sind. Die Zukunft wird zeigen, ob es einmal Moringa-Medikamente gegen alle möglichen Zipperlein und Krankheiten geben wird. Inzwischen werben diverse Internetshops mit dem hohen Gesundheitspotenzial und natürlich dem enormen Nährstoffgehalt ihrer Moringa-Produkte. Moringa-Kapseln, -Tee, -Öl, -Kosmetik und weitere Artikel, in denen Moringa zugesetzt wurde, sind in der weiten Welt des Internets zu manchmal schier unglaublich hohen Preisen erhältlich. Ob wir Moringa in den Industrieländern brauchen? Ich glaube, wir müssen uns nicht über Mangelernährung beschweren. Die meisten von uns haben die Möglichkeit, z. B. Bananen, Karotten und Orangen zu essen, und diejenigen, die sie nicht haben, können sich Moringa-Produkte ohnedies nicht leisten. Die Fülle an Nahrungsmitteln, die bei uns erhältlich sind, sollte es uns ermöglichen, unseren Körper mit allen notwendigen Vitaminen und Mineralstoffen zu versorgen und – soweit möglich – unseren Körper gesund zu halten. Es ist nur eine Frage der Disziplin, ob wir das auch tun. Aber in so vielen Ländern unserer Erde haben die Menschen nicht diese Möglichkeiten und dort kann Moringa mit Sicherheit sehr viel Gutes bewirken.